Der Ukrainekrieg hat bei den (meisten) Deutschen für ein böses Erwachen gesorgt. Nichts, vor dem nicht viele andere Länder längst gewarnt hätten oder das nicht absehbar gewesen wäre. Leider haben verantwortungslose Politiker aller(sîc!) Parteien dafür gesorgt, daß Deutschland Putins Krieg in einer Schlüsselstellung mitfinanziert hat.
In Deutschland werden nun die meisten Weichen umgestellt: Kein ernsthafter Politiker ist gegen die Einrichtung von zwei neuen LNG-Terminals, um so schnell wie möglich den verbrecherischen Überfall auf die Ukraine nicht mehr mitzufinanzieren. Für die Übergangszeit wird über Laufzeitverlängerungen der verbliebenen drei Kernkraftwerke in Deutschland geredet; eine Wiederinbetriebnahme der drei am 31. Dezember stillgelegten ist plötzlich wieder möglich.
Es ist sicher kein Zufall, daß Putin in die Ukraine einmarschierte, nachdem sich Deutschland durch die Abschaltung von Grohnde, Brokdorf und Gundremmingen noch abhängiger von russischem Gas gemacht hatte und NordStream 2 planmäßig in Betrieb gegangen wäre. Gazprom kaufte deutsche Gaslager auf und ließ sie im letzten Jahr leerlaufen. Es steht nun zu hoffen, daß die „verkorkste Energiewende“ nunmehr auf solide Füße gestellt wird – zum ersten Male seit 2000: Es ist kein Zufall, daß Gerhard Schröder als Verantwortlicher für den Beginn der Energiewende ausgerechnet in russische Gasunternehmen einstieg.
Robert Habeck hat als Energieminister ebenfalls zunächst die Versorgung von LNG und „grünem“ Wasserstoff gesichert – gäbe es eine Möglichkeit, den Zwischenschritt zu überspringen und direkt erneuerbare Energien auszubauen, hätte er das in die Wege geleitet.
Das andere von Gazprom-Lobbyisten verhinderte Großprojekt, DESERTEC, würde die Situation jetzt deutlich entschärfen. Da es nicht aufgegeben, sondern von den Gastgeberstaaten Marocco und Algerien (seit 2016 auch Tunesien) für die regionale Energieversorgung gebaut wird, wäre ein europäischer Einstieg sicher möglich. Tunesien ist dabei das Land, das aus dem Arabischen Frühling als Demokratie gekommen ist und eine wichtige Leuchtturmwirkung in der Region spielen kann; das deutsche Prinzip „Wandel durch Handel“ ist in jedem Fall in Marocco und Algerien weit erfolgversprechender, als es gegen Putin war.
Über die Bundeswehr wurde schon mehrfach geredet. Nachdem große Teile des Verteidigungsétats zu Beratern umgeleitet wurden und mißlungene Privatisierungen mit gewollt wenig Mitsprache der Bundeswehr – völlig überraschenderweise – von den Teilhabern verwendet wurden, um defizitäre Werke an sie zu verkaufen und ihre Firmen mit Aufträgen ohne jede Rücksicht auf den tatsächlichen Bedarf zu versorgen – fordern nun viele Politiker, die Verteilung von Mitteln in der Bundeswehr zu optimieren. Es sind keine prophetischen Gaben erforderlich um zu verstehen, daß das praktisch wieder mit externen Firmenberatern stattfinden soll.
NATO und EU beginnen zum wiederholten Male, aus ihrem Dornröschenschlaf in Bezug auf Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) aufzuwachen; im Gegensatz zu anderen Ansätzen wie während der Jugoslawienkriege oder des 3. Golfkriegs könnte jetzt der Handlungsdruck dazu hoch genug sein. Vielleicht sogar hoch genug, um die vollintegrierte Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) modernisiert wieder aufzulegen, vor allem als Möglichkeit für Nicht-NATO-Staaten, einem System kollektiver Verteidigung außerhalb der Kommandostruktur der NATO beizutreten.
Historische Parallelen
Der Grund für die gesamte „Zeitenwende“ ist: Putin hat bewiesen, daß er Verträge nicht einhält und politische Vernunft und die Interessen Russlands zugunsten seines Eigeninteresses vernachlässigt. Lukaschenko verplapperte sich schon, daß der Krieg nahtlos auf Moldawien übergehen sollte. Belarus und Russland sind noch enger zusammengewachsen.
Zwischen Ostpreußen und Belarus verläuft der SuwałkiKorridor, mit dem das russische Ostpreußen durch Polen von Belarus getrennt ist. Statt im sehr stark verteidigten Suwałki-Korridor könnte Putin – wie im „Fall Gelb“ 1940 oder bei der Invasion in die Normandie statt die Ärmelkanal-Küste – gen Westen angreifen, ganz Polen einnehmen und so die stark verteidigte polnisch-belarussische Grenze flankieren. Ebenfalls kann Putin Rumänien angreifen und eine Landverbindung nach Serbien erobern; mit Rumänien besetzt er damit große Erdgas- und -ölvorkommen.
Damit sind die nächsten Ziele Putins vorprogrammiert.
Das Baltikum befindet sich als ehemaliger Teil Großrusslands direkt in Putins Visier. Durch den Ostseestützpunkt Pillau-Baltijsk könnte damit Russland das Baltikum über Land, See und Luft von der EU abschneiden und zu einer EU-Enklave innerhalb Russlands machen. Es gibt eine große russische Minderheit im Baltikum, dem Lettland, Estland und Litauen auch volle Bürgerrechte und Staatsangehörigkeit verwehren, es sei denn, sie bestehen einen Einbürgerungstest.
Das sollte alles ziemlich bekannt klingen: diese Bedingungen nutzte Russland auch, um gezielt mit der Unterstützung von Separatisten und Aufstachelung russischsprachiger Kreise die Ukraine zu zersetzen.
Polen und das Baltikum gehören jedoch beide zur NATO und EU, so daß dann Beistandsverpflichtungen nach Art. 5 des NATO-Vertrages und Art. 42(7) des EU-Vertrags von Lissabon zum Tragen kommen werden. Was widerum erschreckende Parallelen zu Hitlers Politik hat:
- 1938 Annexion von Landesteilen (Krim und Teile des Donbass);
- Frühjahr 1939 Zerschlagung der Tschechoslowakei in das „Protektorat Böhmen und Mähren“ (das sollte wohl jetzt das „Protektorat Ukraine und Moldawien“ werden);
- im Herbst 1939 dann Überfall auf Polen. Dabei wurden große Probleme mit Ausrüstung wie Gliederung offenbar, so daß die Wehrmacht den Polenfeldzug als „Fehlschlag“ wertete.
- Als die Wehrmacht im am 10. Mai 1940 den Westfeldzug begann, hatte sie diese Fehler weitgehend ausgemerzt und marschierte in voller Stärke gegen Frankreich – dessen Strategie, Deutschland sich an der Maginot-Linie ausbluten zu lassen spektakulär schiefging, weil das sog. „Dritte Reich“ über Belgien die Maginot-Linie umging. In Dünkirchen entgingen britische Truppen nur knapp der Vernichtung – wäre das gelungen, wäre Großbritannien wegen völliger Demoralisierung sehr wahrscheinlich auf lange Zeit mattgesetzt gewesen. Am 25. Juni unterzeichnete Frankreich die Kapitulation.
- Es folgte der mörderischste Krieg in der Geschichte, mit zwischen 55 und 75 Millionen Toten.
Beistandsverpflichtungen durch Frankreich und Großbritannien wurden nur sehr widerwillig im „Sitzkrieg/La drôle de Guerre“ eingehalten; die im Budapest-Memorandum 1994 an die Ukraine gegen dessen nukleare Abrüstung gegebenen wurden dagegen gar nicht eingehalten – weshalb nach 2014 kein Land mehr so dumm sein wird den historischen Fehler der Ukraine zu wiederholen, freiwillig auf Kernwaffen zu verzichten. Es hat sich dort gezeigt, daß jegliche wirtschaftlichen und diplomatischen Sanktionen es wert sind, mit Kernwaffen eine Absicherung gegen direkte militärische Invasionen zu haben. Staaten wir Iran, Israel, Pakistan und Indien werden das zur Kenntnis genommen haben. Damit ist die nukleare Abrüstung von Putin und die Inaktivität der Garantiestaaten 2014 unwiderbringlich beendet worden.
Leistungen der Ukraine
Das wäre also, wie es weitergehen wird, wenn die Ukraine fällt. Daß Deutschland nicht selbst angegriffen würde, ist unsicher.
Wenn nun Putin in der Ukraine stecken bleibt und der Krieg nicht direkt auf die NATO übergreift, dann hat Europa das niemand anderem zu verdanken als der Ukraine; und den Reformen, die aus einem apathischen Volk mit sehr geringem Vertrauen in Präsident, Parlament und Streitkräfte ein Volk machten, das für seine erreichten Ziele und seine Kultur kämpft. Betrachtet man sich Statistiken und Erfahrungen bis zum Jahre 2019, so hätte Putins Einschätzung sehr gut zutreffen können. Nach dem Appeasement, das er nach dem Diebstahl der Krim erfuhr (Deutschland begann NordStream 2 ein Jahr später), wäre es nicht brasch unvernünftig, es im Suwałki-Korridor darauf ankommen zu lassen wie weit die „grenzenlose Solidarität“, die dann beschworen worden wäre, wirklich geht.
Kurzum: Wenn Europa jetzt nicht sehr energisch Putin entgegentritt, dann hätte der Dritte Weltkrieg am 24. Februar 2022 begonnen, auch wenn man es in Europa nicht wahrhaben will.
„Solidarität“
Solidarität ist billig. „Grenzenlose Solidarität“, ohne einen Finger zu rühren, ist eine Standardfloskel in Deutschland. Mit ihr wird die Wählerschaft rhetorisch beruhigt, ohne sie mit den Konsequenzen echter Unterstützung konfrontieren zu müssen. Olaf Scholz wurde von Joe Biden vorgeführt, als er an NordStream2 auch nach Putins Einmarsch in die Ukraine festhalten wollte. Waffenlieferungen, die nach Bærbock nicht praktikabel seien, weil sie nicht in der Ukraine ankommen könnten, haben längst die Ukraine erreicht.
Dabei ist Deutschland immer noch in einer Blockierhaltung, sobald keine Kameras auf die Regierung gerichtet sind. Viele Waffensysteme der ehemaligen NVA wurden mit einem Vetorecht bei der Weitergabe an andere Staaten abgegeben. Neun Feldhaubitzen, die Estland der Ukraine noch vor dem Krieg liefern wollte, bekamen die Freigabe erst, als Deutschland sein Gesicht längst verloren hatte. Von den von Seiten Polens diskutierten MiG-29s – Flugzeugtypen, die es mit Russischen aufnehmen können und an denen ukrainische Piloten ausgebildet sind – brauchen 22 eine Freigabe zur Weitergabe als ehemalige NVA- und Bundeswehrmaschinen.
Über vereinzelte Stimmen in mehreren Parteien, die beispielsweise selbst den Bau der beschlossenen LNG-Terminalen ablehnen – damit also auf unabsehbare Zeit weiterhin eine Finanzierung der Kriege gegen die Ukraine, Moldawien und im Endeffekt auch EU und NATO billigend in Kauf nehmen – braucht hier nicht viel gesprochen zu werden. In Bundesregierung wie Opposition gibt es glücklicherweise eine breite Mehrheit, die die wahren Kosten eines derartigen Vorgehens sieht.
Selbst Friedrich Merz spricht sich für einen totalen Importstop russischer fossiler Energie aus, weil er die wahren Kosten eines kurzfristigen Appeasements für Wirtschaft und Gesellschaft sieht. Er muß als Opposition auch damit rechnen, daß die Union genau dann an die Macht kommt wenn diese Folgen eintreten. Das im Gegensatz zu Regierungspolitikern, die davon ausgehen können, bis dahin aus der Verantwortung gewählt zu werden.
Konkrete Forderungen für Wahlkreisabgeordnete
Was kann anstelle von „Solidarität“ also der einzelne deutsche Bürger unternehmen? Konkret kann jederman seine zuständigen Wahlkreisabgeordneten in Bundestag und Europaparlament anschreiben. Besonders empfehlen wir drei Forderungen:
Schnellprogramme für den Ersatz von Waffenlieferungen
Viele Länder des ehemaligen Ostblocks haben wirksame Waffensysteme, an denen ukrainische Streitkräfte ausgebildet sind. Neben einer mittelfristigen Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit – ukrainische Austauschsoldaten also an westlichen Systemen auszubilden – hilft kurzfristig, der Ukraine diese Waffensysteme zur Verfügung zu stellen. Polen hat hier nachvollziehbare Forderungen genannt: Namentlich der Ersatz der abgegebenen Waffensysteme durch modernere.
Hier ist die EU gefragt. Für abgegebene MiG-29-Jagdflugzeuge kann sie beispielsweise europäische Waffensysteme – wie den Eurofighter Taifun, die Dassault Rafale, SAAB JAS-39 Gripen, EADS Mako u.ä. – in ausreichendem Maße bezuschussen. Wichtig ist, daß der Ukraine genügend Waffensysteme zur Verfügung gestellt werden, vor allem zur Luftverteidigung der von Putin völkerrechtswidrig beschossenen zivilen Ziele.
Deutschland hat jetzt beschlossen, die Panavia Tornado Jagdbomber durch F-35 JaBos zu ersetzen. Dabei lagen längst Planungen für einen Tornado-Nachfolger vor: Das Future Offensive Air System (FOAS) wurde von 1995-2005 verfolgt, wobei wohl der Opiumtraum der „Friedensdividende“ viele Staaten von einer stärkeren Beteiligung abhielt. FOAS sollte 2015-2017 in Produktion gehen; würde also jetzt realistisch tatsächlich zur Verfügung stehen. Europa hat mit gemeinsamen Projekten wie TransAll, Panavia und Eurofighter gezeigt, daß es für den eigenen Bedarf in der Lage ist, adäquate Systeme zu erstellen. Es ist gut angelegtes Geld, jetzt schon unter Beteiligung mit Antonov zu beginnen, einen europäisch einheitlichen Jagdbomber („FOAS“) als Nachfolger von Tornado und F-35 zu entwickeln und das Programm zum Ersatz des Eurofighter Taifun, FCAS (Future Combat Air System) energisch voranzutreiben.
Verkürztes Verfahren zur Aufnahme der Ukraine in die EU
Eine perfide Entscheidung war es, ein verkürztes Beitrittsverfahren der Ukraine zur EU auszuschließen.
Hierzu muß man wissen, daß der Beitritt zur Europäischen Union an drei Kriterien gekoppelt ist:
Diese so genannten „Kopenhagener Kriterien“ müssen alle Staaten erfüllen, die der EU beitreten wollen:
- Das „politische Kriterium“: Institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten.
- Das „wirtschaftliche Kriterium“: Eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten.
- Das „Acquis-Kriterium“: Die Fähigkeit, sich die aus einer EU-Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen und Ziele zu eigen zu machen das heißt: Übernahme des gesamten gemeinschaftlichen Rechts, des „gemeinschaftlichen Besitzstandes“ (Acquis communautaire).
Niemand dürfte etwas gegen einen konkreten Umsetzungsplan und Übergangsfristen zur Erreichung des politischen Kriterium haben. Wie geschrieben, hat die Ukraine seit 2019 hier soviel erreicht, daß Ukrainer ukrainischer wie russischer Sprache gemeinsam gegen Putin kämpfen.
Schwerer wird es schon beim Acquis-Kriterium.Wörtlich wird die Ukraine dies nicht einhalten können, weil sie gerade durch den verbrecherischen Überfall durch Putin zerstört wird. Gemeinschaftliches Recht zu übernehmen wo noch nicht passiert, dürfte auch hier das geringere Problem sein.
Andere Pflichten jedoch kann die Ukraine nicht bis zum Ende ihres Wiederaufbaus erfüllen, weil sie eine andere, wichtige Pflicht gerade weit übererfüllt: Es wäre vielleicht für die Ukraine nach diesen Kriterien vorteilhafter gewesen, Putin einfach durchmarschieren zu lassen und das Problem der NATO zu übergeben. Das würde direkt zum Überfall auf Moldawien führen, und Putin bestärken sowie ihm die Mittel lassen, danach SuwałkiKorridor, Polen und Rumänien anzugreifen – womit sowohl die Beistandsverpflichtungen der NATO als auch der EU zwangsläufig griffen und selbst Deutschland sich nicht mehr herausreden könnte.
Wirtschaftshilfe für den Wiederaufbau
Das dritte, wirtschaftliche Kriterium dagegen ist für die Ukraine auf absehbare Zeit unmöglich zu erfüllen. Die Ukraine hat dabei eine leistungsfähige Industrie mit Firmen wie Antonov, Dnepr und anderen; diese sind aber jetzt besonders ein Ziel russischer Angriffe. Die Lokomotivfabrik Luhansk muß sie sogar erst zurückerobern, ebenso die auf der Krim ansässigen Firmen.
Hier kann die EU sowohl am besten wie auch am schlechtesten helfen. Am besten, weil es vor allem in Frankreich und umliegenden Ländern erfahrene Ökonomen gibt, die einen „Marshall-Plan“ für die Ukraine gut ausarbeiten können.
Leider haben EU-Länder wie Deutschland, die Niederlande, seinerzeit Großbritannien und andere aber Vorstellungen, die von der Realität völlig überholt sind. Cameron antwortete mit „Austerität“ auf die britische Wirtschaftskrise – und verschlimmerte sie damit deutlich. Schäuble setzte harte Forderungen gegen Griechenland durch, die selbst die Weltbank für überzogen und Nachverhandlungen für dringend erforderlich hielt.
Der „Washingtoner Konsens“ ließ die russische Wirtschaft zusammenbrechen und brachte so Putin überhaupt erst an die Macht, während der Übergang zur Marktwirtschaft in Rotchina in vielerlei Hinsicht dem Washingtoner Konsens diametral widersprach – die Wirtschaftskraft gerade dadurch aber sprunghaft erhöhte. Der Träger des Alfred-Nobel-Reichsbankpreises Joseph Stiglitz stellte diese Länder sowie Polen und Tschechien gegenüber um zu zeigen, daß der Washingtoner Konsens pures Gift ist und sich ein Markt nur entfalten kann, wenn vorher die Infrastruktur dafür planmäßig geschaffen wird.
Die Höhe, die dieser Aufbaufonds gerechterweise umfassen sollte, sind die Kriegsschäden, die Europa durch den Widerstand der Ukraine gegen Putin erspart geblieben sind. Dieser Krieg würde Europa weitgehend ruinieren und um Jahrzehnte zurückwerfen – wie die Ukraine es gerade tatsächlich erlebt.
Andererseits ist die Übererfüllung der Pflicht durch die Ukraine eben, daß es der EU erspart, daß diese Kosten auf ihre Länder zukommen.
Das sollte den Rahmen für diesen Aufbaufonds umreißen. Es darf keine Entmachtung ukrainischer Initiative werden um ihr ein „Austeritäts„-Modell überzustülpen, das die „Frugal„-Länder wie Deutschland selbst bei jeder Krise (wie Corona oder einer Rezession) aussetzen und durch teure „Abwrackprämien“ ausgleichen. Der Krieg zeigt beispielsweise gut, daß eine Privatisierung der Eisenbahngesellschaften – die in Deutschland oder Großbritannien sagenhaft in die Hose ging – für einen Frontstaat keine gute Idee ist.
Selbst ein System, das der ukrainischen Wirtschaft hilft, sich zu entfalten und die durch Ćornobyl und den Überfall Putin mehr als gerechtfertigten Sozialleistungen auszuzahlen, wird aber wesentlich günstiger sein, als ein Krieg auf Gebiet der NATO und EU.
Die Mär von Grenzkonflikten als Hinderungsgrund
Oft wird davon geredet, daß ein laufender Konflikt eine Mitgliedschaft bei NATO und EU ausschließe – ein gutes „Narrativ“, das nur nicht der Wirklichkeit standhält. Zwei Länder in der NATO hatten bzw. haben laufende Grenzkonflikte. Deutschland beanspruchte bei seinem NATO-Eintritt die DDR und Teile Polens für sich; die Türkei hält die Hälfte von Zypern besetzt. Über Grenzkonflikte Frankreichs, das zu seinem Beitritt noch Algerien als integralen Teil Frankreichs sah, reden wir hier gar nicht.
Die Frontstellung zu Russland zwingt andererseits die Ukraine auch dazu, ihre Streitkräfte stetig in einer hohen Bereitschaft zu haben. Mit den Beistandsverpflichtungen nach Art.42(7) des EU-Vertrages kann sich die Ukraine auf ein – immer noch sehr breites – Spektrum beschränken und mit anderen EU-Streitkräften Verbindungen eingehen.
Die NATO-Russland-Grundakte von 1997, in der sich die NATO de facto verpflichtete, keine Basen östlich der Elbe einzurichten, kann man jetzt getrost als gescheitert erklären, ebenso wie Putin schon 2014 das Budapester Memorandum von 1994 brach und damit ungültig machte. Dementsprechend könnte die Ukraine – wie die Bundesrepublik Deutschland bis 1990 – für die Landesverteidigung Basen von Partnerstaaten einladen.
Die Verpflichtung gegenüber der Ukraine
Der Westen im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen haben permanent Entscheidungen getroffen, die direkt den Interessen der Ukraine zuwiderlaufen. Das begann mit dem Budapest-Memorandum 1994 – eigene Kernwaffen zu behalten, hätte die Ukraine 2014 vor Angriffen durch Russland bewahrt – und zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte.
Daß das Budapester Memorandum, mit dem die Ukraine gemeinsam mit Belarus und Kasachstan seine atomaren Gefechtsköpfe freiwillig abgab, keinerlei Belastung standhielt ist für Atomstaaten wie Indien, Pakistan, Israel und Iran ein klares Zeichen, daß es nie wieder zu einer freiwilligen nuklearen Abrüstung kommen wird. Gegenüber einem Angriffskrieg einer feindlichen Macht – der durch Kernwaffen nachhaltig verhindert wird – sind jegliche politischen und wirtschaftlichen Sanktionen, die zur Verhinderung atomarer Aufrüstung verhängt werden, ein angemessener Preis.
Nunmehr fangen schon Hinterbänkler wie Phillipp Amthor und Abgeordnete der FDP an, vor einem „Mißbrauch“ der Fluchtbewegung von Ukrainern zur Übersiedlung nach Deutschland zu reden. Das ist völlig unverständlich. Der Ukraine steht eine EU-Mitgliedschaft, zumindest übergangsweise ein sehr enges Assoziierungsabkommen mit der EU zu. Warum also sollten Ukrainer die Asylregelungen zur Einreise in Länder „mißbrauchen“, zu denen der politische Anstand wie Realpolitik nahtlos an den Krieg anschließend Freizügigkeit von Personen und Waren gebietet?
Jetzt ist die Zeit zum Handeln!
Jeder einzelne kann die gewählten Repräsentanten auffordern, der Ukraine einen vereinfachten, auf seine aktuellen Leistungen für die EU eingehenden Weg zu öffnen. Schreibt dazu an eure Wahlkreisabgeordneten im Bundestag beziehungsweise Nationalrat und dem Europäischen Parlament, sowie an andere örtliche Politiker die ihr kennt!
Niemand will dabei der Ukraine einen Freifahrtschein ausstellen. Das bedeutet aber nicht, daß keine vorläufige oder probeweise Mitgliedschaft geschaffen werden muß, die die hohen Leistungen, die die Ukraine aktuell für EU-Bündnisverteidigung leistet, würdigt.
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