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Deutschlands Energiepolitik während des Ukrainekrieges und seine Auswirkungen auf die Europäische Union – eine Einschätzung

Deutschland hatte lange eine Vorreiterrolle in der Europäischen Union. Jetzt bröckelt sein Machtzentrum. Bild: Wikimedia Commons via Pexels, CC0.

Die deutsche Energiepolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte war begleitet von Warnungen und Kritik. Nicht nur Bedenken bezüglich der drohenden Erderwärmung wurden immer lauter, auch Stimmen der Sicherheitspolitik warnten vor den Folgen getroffener Entscheidungen, allen voran der Abhängigkeit von russischem Gas. Politische Entscheidungsträger ignorierten die Mahnungen. Mehrere Jahre funktionierte das fragile Konstrukt – bis zu Russlands Angriff auf die Ukraine.

Nun stehen wir den Folgen gegenüber: Die Gas- und Stromrechnungen sowie die allgemeine Inflation belasten vor allem Haushalte mit mittlerem und niedrigem Einkommen. Eine Entspannung der Situation ist nicht in Aussicht, einige Stimmen gehen von einer weiteren Verschlechterung der Lage im kommenden Winter aus. Die Spannungen innerhalb der Bevölkerung steigen, nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten Europäischen Union.

Die deutsche Politik jedoch hält weiterhin an Hoffnungen fest, mit Russland Geschäfte machen zu können, anstatt sich wie beispielsweise die baltischen Staaten um energiepolitische Unabhängigkeit zu bemühen. Die Akteure handeln auf nationaler Ebene. Dabei muss die Europäische Union zusammenarbeiten, um die gegenwärtige Lage zu stemmen. Die Folge der deutschen Energiepolitik und der russischen Invasion der Ukraine könnten eine (energie-)politische Spaltung der EU hervorrufen.

Deutsch-französische Hegemonialbestrebungen im Sinne eines Kerneuropas

Das Agieren vor allem Deutschlands und Frankreichs erinnert an das Konzept eines Europas der zwei Geschwindigkeiten. Die Idee fand erstmals in den 1970er Jahren Erwähnung und beschreibt eine Art Übergangsperiode von kooperierenden losen Nationalstaaten hin zu einem gemeinsamen Europa. Die Annäherung an diesen Zustand kann in Stufen erfolgen, den Staaten wird dafür zeitlicher Freiraum gegeben. Voraussetzung für das Gelingen ist die Definition eines gemeinsamen Ziels, auch Integrationsziel genannt. Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern bestehen somit in der Zeitspanne, die den Staaten zugestanden wird, um diese Ziele zu erreichen. Typisch sind zum Beispiel die Übergangsperioden für EU-Neumitglieder. Eng verwandt hiermit ist das Konzept eines sogenannten „Kerneuropas“ bestehend aus Staaten, die den definierten Integrationsprozess bereits abgeschlossen haben. Als „Kern“ haben diese Staaten eine Vorreiterrolle inne, während andere Staaten bestrebt sein sollten, aufzuschließen.1

Im gegenwärtigen Post-Brexit-Zeitalter sind Deutschland und Frankreich bemüht, ihre alte Hegemonie, ihr Kern-Dasein, über die EU zu bewahren. Ein gegenläufiges Machtzentrum besteht aus den baltischen Staaten, Polen – und im entfernteren Sinne auch der Ukraine. Eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine würde ein Gegengewicht entstehen lassen, das Deutschland und Frankreich ausbalanciert und ihnen die hegemoniale Vorherrschaft nimmt. Sollte Russland seinen Krieg gegen die Ukraine gewinnen – oder zumindest im Rahmen von „Friedensverhandlungen“ einige besetzte Gebiete unter seiner Herrschaft behalten – wäre für Deutschland und Frankreich eine Rückkehr zum Status quo möglich. Kurzfristig würden sich Spannungen entlasten. Ein mögliches Szenario wäre sogar eine Wiederaufnahme russischer Gaslieferungen.

Nationale Energiepolitik als Gegenpol zu einenden Bestrebungen

Deutschland hat seine Energiekrise selbst verursacht. Die verschleppte Umstellung auf erneuerbare Energien bei gleichzeitigem Verringern der Atomenergie hat Deutschland in die Abhängigkeit Russlands getrieben.

Über die Jahre hinweg standen immer wieder verschiedene Aspekte bei der Energieversorgung im Fokus. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das zunächst die sichere Energieversorgung an sich, wurde derweil bald abgelöst von der Frage nach der günstigsten Energieversorgung. Erdöl war hier das Mittel der Wahl, bis sein Aufstieg mit der Ölpreiskrise 1973 an sein Ende geriet. Um die Nutzung des Öls zu reduzieren, entwickelte die Bundesregierung ein Konzept: Ausbau der Atomenergie, Energiesparmaßnahmen und eine Stabilisierung der Kohlenutzung. Die Fokussierung auf Umwelt- und klimapolitische Aspekte startete Mitte der 1980er Jahre. Neben den erneuerbaren Energien war hier vor allem das Erdgas attraktiv, da es eine ideale Überbrückungsmöglichkeit darstellte hin zu einer Dominanz der erneuerbaren Energien. Das russische Gas war günstig und stand zur Verfügung. Deutschland begab sich energiepolitisch in die Abhängigkeit Russlands.

Mit erstmaligem Aufflammen der Ukrainekrise 2014 kam die Debatte auf, LNG (verflüssigtes Erdgas) zu nutzen, um sich aus der Abhängigkeit von russischem Gas zu befreien.2 Aus ökonomischen Gründen (der Bau eines LNG-Terminals sei zu teuer und nicht wirtschaftlich) und wegen Drucks von Umweltbewegungen wurde der Gedanke an den Bau solcher Terminals in Deutschland verworfen, obwohl es die Versorgungssicherheit Deutschlands erhöht hätte (gem. Einschätzung der damaligen Bundesregierung). Bis zu Russlands Überfall auf die Ukraine.

Als Folge der russischen Invasion hatte die EU-Kommission schon im März 2022 darauf gedrängt, eine gemeinsame europäische Antwort auf die durch Russland ausgelöste Energiekrise zu finden. Hintergrund dessen waren Sorgen, die einzelnen EU-Staaten könnten aus Angst vor Versorgungsengpässen in einen Streit um die knappen Ressourcen geraten. Die Idee bestand in der Schaffung einer gemeinsamen EU-Plattform zur gemeinsamen Aushandlung von Lieferverträgen für Gas sowie gemeinsame Nutzung der vorhandenen Speicheranlagen. Die Bundesregierung jedoch wollte auf die Freiwilligkeit der europäischen Mitgliedsstaaten setzen. Das aber könnte zu einer europäischen Spaltung führen. Die ökonomisch stärkeren Staaten wie Deutschland und Frankreich könnten hier ihre wirtschaftliche Macht auf Kosten der kleineren, vor allem ost- und mitteleuropäischen Staaten, ausnutzen. Immerhin haben sich die Mitgliedsstaaten darauf geeinigt, ab 2023 15% der Füllung ihrer Gasspeicher gemeinsam zu beschaffen. Ein Schritt in die richtige Richtung.

Die aktuelle Bundesregierung muss die Mammutaufgabe leisten, die Energiepolitik der letzten Jahre zu korrigieren. Notwendige Fragen breiten sich zu gesellschaftlichen Debatten aus, allen voran die Frage nach einer Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken. Mehrere EU-Länder sprechen sich für eine Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftwerke aus, Deutschland selbst hält jedoch am Ausstieg fest – nicht ohne erheblichen Streit innerhalb der Regierungskoalition. Der bisher einzige Kompromiss scheint die Laufzeitverlängerung über den Winter.

Dieser Streckbetrieb ist zunächst auf sechs Monate begrenzt. Die Debatten um neue Brennstäbe, die benötigen Mitarbeiter, notwendige Wartungen sowie die Kosten eines Weiterbetriebs auf lange Sicht verdrängen die Frage danach, inwiefern der weitere Verlauf des Kriegs in der Ukraine Auswirkungen auf einen solchen Weiterbetrieb hat. Sollte die Regierung bis zum Ende dieser sechs Monate, spätestens bis zum Beginn des nächsten Winters 2023 keine Möglichkeit gefunden haben, die Energieversorgung ohne Atomkraft und ohne russisches Gas zu gewährleisten, stünde die Atomdebatte erneut im Fokus der medialen Aufmerksamkeit. Ein Sieg Russlands könnte die Atomdebatte beenden – insofern die Regierungskoalition wieder auf Gaslieferungen aus Russland zurückgreift.

In Deutschland stieß und stößt europäische Kritik an der deutschen Energiepolitik auf taube Ohren. Das Primat der Innen- und Wirtschaftspolitik stand und steht für Deutschland über den Interessen eines gemeinsamen Europas. Das Zaudern Frankreichs und Deutschlands gegenüber der Ukrainehilfen ist auf eine große pro-russische Bias und Nähe der Politik von Frankreich und Deutschland gegenüber Russland geprägt. Dieses energiepolitische Agieren in der Vergangenheit und heute ist ein Mittel deutscher und französischer Hegemonialbestrebungen.

In Europa beginnt ein Wettrennen, sich möglichst eigenständig national von Russland energiepolitisch abzukoppeln. Andere europäische Staaten setzen energiepolitisch auf ihre eigene staatliche Souveränität und agieren in „Energieallianzen“ unterhalb der EU-Ebene miteinander. Diese Allianzen ergeben energiepolitische Blöcke in Europa. Wie bereits dargelegt bilden Frankreich und Deutschland als „Kern“ im Sinne des Konzepts eines Kerneuropas den einen Block, Polen und das Baltikum den anderen. Einen dritten Block bilden die nordeuropäischen Staaten.3

Mit diesen wachsenden Blöcken erleben wir auf energiepolitischer Ebene etwas, vor dem schon seit längerem gewarnt wurde. Die deutsch-französische Hegemonie sorgt für eine Distanzierung von Mitgliedsstaaten, die sich in Form einer „countervailing coalition“ neu formieren.4 Russland erreicht somit die Ziele seiner hybriden Kriegsführung: ein Riss durch die Einigkeit Europas. Es liegt unter anderem an Deutschland, diesen Negativtrend zu unterbrechen – nicht als Teil eines „Kerns“, sondern indem es auf Augenhöhe mit seinen europäischen Partnern zusammenarbeitet. Wenn Deutschland seine nationale Energiepolitik so fortführt, wie bisher, droht ihm die Isolation.

In den letzten Jahrzehnten hat Deutschland seine Energiepolitik unter innen- und wirtschaftspolitischen Aspekten betrachtet, nicht aber unter sicherheits- oder sozialpolitischen.5 Gerade in der aktuellen weltpolitischen Lage ist gesellschaftliche und politische Stabilität sowie europäischer Zusammenhalt unerlässlich. Gleichzeitig müssen wir darauf achten, eine Abhängigkeit gegenüber Russland nicht gegen eine Abhängigkeit gegenüber China einzutauschen. Man darf nicht vergessen, dass auch erneuerbare Energien geopolitische Risiken und die Gefahr von Importabhängigkeiten bergen. Ein Zeitalter, das auf klimaneutraler Stromproduktion durch erneuerbare Energien basiert, bedeutet nicht das Ende von Geopolitik, Sicherheitsrisiken und Verwundbarkeiten.

(Energie-)politische Spaltung – und nun?

Es bleibt die Frage, wie wir dieses Ziel erreichen. Die Idee eines Kerneuropas – die trotz aller Kritik dem Ziel des europäischen Zusammenhalts dienen sollte – ist veraltet und war für eine geringere Anzahl von europäischen Mitgliedsstaaten gedacht.6 Die Vorreiterrolle Deutschlands und Frankreichs, die auch bei anderen Problemstellungen wie den wachsenden nationalistischen Strömungen immer wieder als Lösung propagiert wird,7 wird unsere gegenwärtigen Probleme eher verstärken, als zu lösen. Langfristig sorgt es für einen Verlust der Europäischen Gemeinschaft. Großbritannien haben wir mit diesem Integrationszwang bereits verloren.

Man darf nicht vergessen, dass Kerneuropa nur eines unter mehreren Konzepten ist, die sich mit der Frage nach einer Integration zu einer Europäischen Gemeinschaft beschäftigen. Diese Ideen werden als „differenzierte“ Integration bezeichnet.8 Bleibt die gegenwärtige Situation bestehen, ergeben sich als Zukunftsszenarien entweder die Auflösung der Europäischen Union (wie es unter anderem von der AfD propagiert wird), eine verkleinerte Europäische Union, die dafür fest zusammenarbeitet oder eine Mischform aus beidem.9 Vor allem die Auflösung der EU wäre im Sinne Putins, der, wie zuvor angedeutet, einen Keil durch die Europäische Union treiben will. Der energiepolitische Aspekt ist dabei das für ihn aktuell beste Mittel. Aber auch eine verkleinerte Europäische Union kann nicht im Sinne des Strebens nach einer Europäischen Gemeinschaft sein.

Es braucht strukturelle Veränderungen innerhalb der Europäischen Union, um den dargelegten Problemen zu begegnen. Die Europäische Union ist heute als supranationale Institution ein Projekt der nationalen Mitgliedstaaten und nicht der Bürger, was nationales Handeln in den wichtigen politischen Bereichen wie der Energiepolitik erst möglich macht. Das Defizit an demokratischer Legitimation in der Europäischen Union besteht seit ihrer Gründung und wurde im Zuge des europäischen Einigungsprozesses nicht entschieden genug angegangen. Die Zukunft der Europäischen Union muss an den Interessen aller Menschen in Europa und nicht an den Regierungen der Mitgliedsstaaten, ausgerichtet sein. Ziel der Piratenpartei ist ein durch eine gemeinsame Verfassung konstituiertes, rechtsstaatliches, demokratisches und soziales Europa. Die unvollendete Struktur des bestehenden EU-Energiebinnenmarkts muss an die Herausforderungen, denen Europa in den Bereichen Energie, Klimaschutz und Sicherheitspolitik gegenübersteht, angepasst werden.

Es braucht eine europaweite Debatte für den Weg zum Erreichen eines solchen Ziels. Wichtig hierbei ist es, nicht aus Deutschland heraus diesen Diskurs anzuführen. Stimmen aus ganz Europa müssen Gehör finden und einbezogen werden. Erst wenn sich die einzelnen Länder auf Augenhöhe verständigen, können wir den Weg hin zu einer starken Europäischen Gemeinschaft führen. Die Zeit drängt. Russlands hybride Kriegsführung zieht erste Risse durch Europa. Ein erster Schritt, um sich dem entgegenzustellen, wäre die Etablierung einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik ohne deutschen Sonderweg.

Dies ist ein Beitrag des Themenbeauftragten Europa sowie des AG-Mitglieds Yasmin Schulze und keine offizielle Parteimeinung.

 

Fußnoten:
1 Schäfer, Wolf (2007): Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten? In: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 87(8), S. 495-511. Hier: S. 497.
2 Das war nicht das erste Mal, dass LNG-Terminals angedacht waren. Ein LNG-Terminal in Wilhelmshaven wurde erstmals in den 70er Jahren geplant. Energieversorger E.ON hatte 2007 zusammen mit anderen Unternehmen der Deutschen Flüssiggasterminalgesellschaft den Bau eines Terminals in Wilhelmshaven aus wirtschaftlichen Gründen verworfen.
3 Die südeuropäischen Länder sind mit LNG-Gas und der Möglichkeit, sich aus dem Mittelmeer und Nordafrika zu versorgen, in einer anderen Lage.
4 Schneider, Heinrich (2004): „Kerneuropa“. Ein aktuelles Schlagwort und seine Bedeutung. El Working Paper Nr. 54, Wirtschaftsuniversität Wien. S. 40-21. Zugriff: https://research.wu.ac.at/ws/portalfiles/portal/18966182/document.pdf (zuletzt gesehen: 23.11.2022).
5 Hacke, Christian (2007): Deutsche Energiesicherheit als nationale und zugleich gemeinsame Aufgabe im Zeichen neuer Unsicherheit: In: Reinhard C. Meier-Walser (Hrsg.): Energieversorgung als sicherheitspolitische Herausforderung. Berichte und Studien 88.  München: Hanns-Seidel-Stiftung, S. 21-29. Hier: S. 21.
6 Schneider 2004: S. 17-18.
7 Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela (2016): EU vor der Zerreißprobe – wie sieht die gemeinsame Zukunft aus? In: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 96(6), S. 383-396. Hier: S. 386.
8 Schneider 2004: S. 18-19
9 Handler, Heinz (2021). Krisengeprüftes Europa. Wie wir die Solidarität in der EU stärken können. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Hier: S. 277.

 

 

 

 

 

1 Kommentar zu “Deutschlands Energiepolitik während des Ukrainekrieges und seine Auswirkungen auf die Europäische Union – eine Einschätzung

  1. “Großbritannien haben wir mit diesem Integrationszwang bereits verloren.”

    Falsch, Großbritannien haben wir (als Europa) verloren, weil der Großteil der älteren Inselbevölkerung nach wie vor der Meinung ist, noch im Elisabethanischen Zeitalter zu stecken.

    Ansonsten ist der Text so weit ganz gut. Einzig dass um den heißen Brei herum geredet wird, finde ich schade. Europa (sowie der Rest der Welt) befindet sich am Beginn eines Energiekrieges. Es geht schlicht und einfach um Ressourcen, welche im modernen Zeitalter des Internets essentiell sind. Billige Energie, so wie in den vergangenen Jahren, verhindert zudem Nachhaltigkeit. Wer Energie zu billig bekommt, der wird niemals zum sparen gezwungen sein. Denn nur wer sparen muss, wird das maximal mögliche aus dem heraus holen, was er hat.

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