AG Europa Kommentar

Europa und Deutschland – Die Bundestagswahl und Europa

Bild: Markus Spiske (Unsplash)

Wenn man aktuell Werbung für den Nutzen eines geeinten Europa machen möchte, reicht ein kurzer Blick nach Großbritannien. Die Auswirkungen des Brexits zeigen dort deutlich, welche Vorteile die Europäische Union (EU) den Bürgern bringt.1 Dennoch ist konstruktive Kritik an der EU wichtig. Nur durch Kritik kann sich die EU verbessern. Kritik ist wichtig, um Diskussionen anzustoßen, welche die EU voranbringen. Ein gemeinsames starkes Europa muss dynamisch sein. Nur durch ein dynamisches, von den Bürgern getragenes Europa kann den Herausforderungen durch Autokratien resilient entgegengetreten werden. Wir brauchen ein von den Bürgern getragenes Europa, dass in der Vielfalt seiner Bürger die Stärke sieht. In unserer Vielfalt geeint von den Bürgern getragen, kann Europa die aktuellen Krisen, wie beispielsweise die Corona-Pandemie,2 steigende soziale Spannungen in der europäischen Gesellschaft oder dem Vertrauensverlust in demokratische Institutionen und Prozesse in ihrer Gesamtheit widerstehen und gestärkt aus diesen hervorgehen.3 Die Legitimität Europas kann schlussendlich nur dadurch kommen, dass die Bürger Europas sich mit dem europäischen Projekt identifizieren. Es ist wichtig, dass die EU jeden Tag aufs Neue die Herzen und Köpfe der europäischen Bevölkerung für dieses so wichtige gemeinsame Projekt gewinnt.

Da die EU ein gemeinsames Versprechen an alle Bürger des europäischen Raumes ist, bedroht es die Macht von autokratischen Herrschern. Die Stärke der EU hat schon in der Vergangenheit die ehemaligen Diktaturen in Süd-, Mittel- und Osteuropa zu Fall gebracht.4 Aktuell besteht die Gefahr, dass ein „Kerneuropa“ sich nur noch de facto auf die Gründungsmitglieder der Europäischen Union beziehen könnte. Wenn die EU ihre integrative Kraft verliert, ist ein Kerneuropa die Spaltung und das Ende des gemeinsamen europäischen Ideals. Ein Kerneuropa ohne Polen, Tschechien, Ungarn und die baltischen Staaten, um hier nur ein paar zu nennen, ist eine leere Hülle ohne Leben. Es würde uns in Europa nur spalten und trennen. Man würde wieder zwischen den Völkern Europas neue Grenzen und Mauern sehen.

Ein Europa ohne seine Bürger ist ein leeres Versprechen. Es ist eine Hand ohne Körper. Vielen Akteuren und Politikern ist ein Europa von und für seine Bürger ein Dorn im Auge. Zu gerne erliegen sie der Versuchung, ihre eigene Schuld „nach Brüssel“ abzuladen und abzuschieben. Hier ist es wichtiger denn je, die Politiker, welche europäische Gelder für eigene Zwecke veruntreuen,5 zur Verantwortung zu ziehen. Die Angst vor den Bürgern Europas bringt diesen Typ Politiker dazu, die EU als Feindbild zu inszenieren.

Erschreckend ist, dass Europa während unserer aktuellen Bundestagswahl in den Debatten kein wichtiges Thema gewesen war.6 Man diskutierte über den Klimaschutz, welches als Thema gerade die Zusammenarbeit auf europäischer und internationaler Perspektive so offensichtlich beinhaltet, aus einer rein nationalen und kleinlichen Perspektive. Töne, dass Deutschland als Vorreiter im Klimaschutz anderen europäischen Staaten und ihrer Bevölkerung vorschreiben sollte, wie man das gemeinsame Ziel erreichen soll, haben mehr Schaden verursacht als vielen bewusst ist. Eine kleingeistige, typisch deutsche Twitter- und Mediendynamik hatte am Ende sogar nicht „die Jugend“ erreicht. Überrascht stellten viele Kommentatoren am Tag nach der Wahl fest, das viele Jugendliche eher den liberalen Kräften zutrauen,7 den Wandel gemeinsam und mit Ideen statt Beschränkungen bewältigen zu können.

Dies gilt ebenso für die europäische Ebene. Wir brauchen die Vielzahl der Ideen und Lösungen der Bürger Europas. Nur so können wir die Herausforderungen meistern. Der technologische Wandel und Fortschritt war immer der Motor, mit dem die Zukunft gestaltet wird. Auch wenn in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert als Reaktion auf die industrielle Revolution eine naive, national gesinnte Liebe zur Natur aufkam, brauchen wir ein gemeinsames Europa, um uns diesem Korsett des Denkens und Handelns zu entledigen. Wir brauchen gemeinsame europäische Kreativität, die Freiheit der gesicherten Kommunikation ohne Zensur, Filter und Furcht, um den Austausch der Ideen und Argumente zu ermöglichen. Diese werden die Grundlage für uns europäische Bürger bilden, um den gemeinsamen Herausforderungen wie beispielsweise dem Klimawandel zu begegnen.

Populismus, wie wir ihn insbesondere beim Brexit, aber auch im Bundestagswahlkampf in Deutschland beispielsweise durch die Aktivisten von Fridays-for-Future sahen, führt dazu, dass Menschen sich polarisieren. Durch die Bildung sogenannter Filterblasen verstärkt sich diese Polarisierung, bis es zur Radikalisierung kommt. Diese radikalisierten und ideologisch fundamentalisierten Blasen verbuchen für sich zwar die ultimative Wahrheit, Lösungen für die bestehenden Probleme sollen aber nur die anderen bringen. Ähnliches erleben wir gerade in Deutschland mit Hinblick auf Polen. Polen, welches so massiv im 20. Jahrhundert unter deutscher Großmachtfantasien gelitten hat, wird durch Deutschland immer noch gerne herablassend betrachtet. Ähnliches gilt für andere slawische Staaten.8 Der Antislawismus910 ist in Deutschland immer noch in weiten Teilen der Gesellschaft gesellschaftsfähig.11 Er wird oft sogar in den selbst ernannten „progressiven“ Kreisen nicht als der Rassismus, der er ist, wahrgenommen.12

Wir müssen auf die verständlichen Ängste osteuropäischer Gesellschaften eingehen, wie aktuell etwa beim Thema Northstream 2.13 Hier hat Deutschland in Europa viel Vertrauen verspielt. Dieses Vertrauen in Deutschland brauchen wir aber. Vertrauen ist wichtig, damit die Bürger Europas weiterhin zusammen an einem gemeinsamen Europa bauen können. Parteien und Politik unterscheiden sich von Aktivismus, dem immer naturgemäß auch ein gewisser Populismus innewohnt, dadurch, dass sie Antworten auf die aktuellen, komplexen Fragen finden müssen.1415 In Deutschland muss uns klar sein, welchen Herausforderungen Staaten wie Polen und die Länder des Baltikums durch hybride Kriegsführung ausgesetzt sind. Es ist wichtig, die Hintergründe, warum Dinge passieren,16 zu verstehen und entsprechend zu kommunizieren.17 Auch ein Blick an die polnisch-belarussische Grenze reicht schon aus, um zu erkennen, dass die nächsten Monate für Europa weitere komplexe Herausforderungen mit sich bringen werden.18 Dort werden Menschen in Not wiedereinmal19 zum Druckmittel zynischer Machtpolitik missbraucht.20

Gemeinsame Politik in Europa muss alle Bürger Europas mitnehmen können. Europa muss wieder in der Lage sein, die Vielfalt der Meinungen auszuhalten. Aus diesen Meinungen und Positionen gilt es, die besten Ideen und Konzepte für unsere europäische Zukunft aufgreifen.21 „Eine gebildete und kritisch denkende Bevölkerung ist Voraussetzung für die Aufrechterhaltung einer funktionierenden Demokratie, des Wohlstands, des sozialen Zusammenhalts und des Erfolgs der europäischen Integration.“22Wir brauchen wieder gemeinsame europäische Solidarität gerade dort, wo es für einen selbst unbequem wird. Und diese Solidarität dürfen wir in Deutschland nicht nur einfordern, sondern müssen selbst bereit sein, diese zu geben. Und zwar gerade bei den politischen Feldern, wo es für Deutschland unbequem ist. Denn nur so sehen unsere Partner in Europa, dass wir in Deutschland es wirklich ernst meinen. Politischen Entscheidungen auf der europäischen Ebene müssen europaweite öffentliche Debatten vorausgehen, die es allen ermöglichen, sich angemessen zu beteiligen.23

Nur durch Taten zeigen wir Deutsche, dass wir nicht nur reden, sondern zusammen mit unseren europäischen Partnern auch für unsere gemeinsamen europäischen Werte einstehen.

1Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Der Brexit – Der EU-Austritt Großbritanniens und seine Folgen

https://www.lpb-bw.de/brexit

2AG Europa: Corona – Europa braucht eine Gesundheitsreserve!, in: Ressort Innen- und Europa der Piratenpartei Deutschland, 23.10.2020

https://innenpolitik.piratenpartei.de/2020/10/23/corona-europa-braucht-eine-gesundheitsreserve/

3Davoodi, Schoresch: Resilienz in Deutschland und Europa, in: Ressort Außenpolitik der Piratenpartei Deutschland, 8.7.2020

https://aussenpolitik.piratenpartei.de/2020/07/08/resilienz-in-deutschland-und-europa/

4Kneuer, M. (2007). Demokratisierung durch die EU. Doi:10.1007/978-3-531-90388-0

5Peksa, Mikuláš: Der Interessenskonflikt von Premier Babiš schadet nicht nur Tschechien, sondern ganz Europa. Der Kampf der Piraten geht in die Zielgerade, 6.9.2021

https://mikulas-peksa.eu/ge/der-interessenskonflikt-von-premier-babis-schadet-nicht-nur-tschechien/

6Der Tagesspiegel: Europa ist kein Thema – zu Unrecht, 20.09.2021

https://www.tagesspiegel.de/politik/bundestagswahlkampf-europa-ist-kein-thema-zu-unrecht/27630164.html

7DW: Nach der Bundestagswahl: Die neue Jugend in Deutschland, 01.10.2021

https://www.dw.com/de/nach-der-bundestagswahl-die-neue-jugend-in-deutschland/a-59369749

8Ney, Thomas: Ukraine-Konflikt: Wir können es uns nicht leisten, neutral zu bleiben, in: Ressort Außenpolitik der Piratenpartei Deutschland, 12. April 2021

https://aussenpolitik.piratenpartei.de/2021/04/12/warum-deutschland-und-die-eu-es-sich-nicht-leisten-koennen-im-ukraine-konflikt-neutral-zu-bleiben/

10Böhmer, Ingelore: Zwischen Antislawismus und Polonisierung. Der lange Weg der deutschen Minderheit in Polen In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jrg. 44, August, 8/1999, S. 975-83

https://silo.tips/download/zwischen-antislawismus-und-polonisierung-der-lange-weg-der-deutschen-minderheit#

11NOZ: Antislawismus – “Böser trinkender Russe”: Ein blinder Fleck in der Rassismus-Debatte, 5.5.2021

https://www.noz.de/deutschland-welt/vermischtes/artikel/2264111/antislawismus-auch-weisse-menschen-erleben-rassismus

12Lehr, Fabian: Die ukrainische Babysitterin, in: Neues Deutschland, 30.10.2020

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1143799.rassismus-die-ukrainische-babysitterin.html

13Kohler, Alexander: Die Isolation Deutschlands durch unverantwortliche Außen- und Sicherheitspolitik, in: Ressort Außenpolitik der Piratenpartei Deutschland, 4.08.2021

https://aussenpolitik.piratenpartei.de/2021/08/04/die-isolation-deutschlands-durch-unverantwortliche-aussen-und-sicherheitspolitik/

14Rucht, Dieter: Faszinosum Fridays for Future, 15.11.2019

https://www.bpb.de/apuz/300410/faszinosum-fridays-for-future?p=0

15 Sebastian Koos und Elias Naumann (2019): Vom Klimastreik zur Klimapolitik. Die gesellschaftliche Unterstützung der „Fridays for Future“-Bewegung und ihrer Ziele.

Forschungsbericht. Konstanz: Universität Konstanz.

http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-2-1jdetkrk6b9yl4

16Davoodi, Schoresch: Deutschland und die „Flüchtlingskrise“ – Eine Herausforderung für sicherheitspolitisches Handeln, in; SG Innerparteiliche Bildung der Piratenpartei Deutschland 18.08.2020

https://bildung.piratenpartei.de/2020/08/18/deutschland-und-die-fluechtlingskrise-eine-herausforderung-fuer-sicherheitspolitisches-handeln/

17Nach Volksabstimmung in Russland ein paar Karat schwerer und schärfer – der lupenreine Demokrat in: Ressort Außenpolitik der Piratenpartei Deutschland, 14.07.2020

https://aussenpolitik.piratenpartei.de/2020/07/14/nach-volksabstimmung-in-russland-ein-paar-karat-schwerer-und-schaerfer-der-lupenreine-demokrat/

19AG Außenpolitik: Hilfe für die flüchtenden Menschen – EU Unterstützung für Griechenland und Bulgarien, in: Piratenpartei Deutschland, 06.03.2020

https://www.piratenpartei.de/2020/03/06/hilfe-fuer-die-fluechtenden-menschen-eu-unterstuetzung-fuer-griechenland-und-bulgarien/

20SZ: Die EU stemmt sich Diktator Lukaschenko entgegen, 2.08.2021

https://www.sueddeutsche.de/politik/litauen-fluechtlinge-belarus-eu-1.5371213

21Davoodi, Schoresch: Europa was nun? – Ein Kommentar, in: Ressort Innen- und Europa der Piratenpartei Deutschland, 16.09.2021

https://innenpolitik.piratenpartei.de/2021/09/16/europa-was-nun-ein-kommentar/

23https://www.piratenpartei.de/europawahl-2019/europaeisches-wahlprogramm/

Dies ist ein Beitrag des Themenbeauftragten Europa und keine offizielle Parteimeinung

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